13. Januar 2015
TÜBINGEN – LOCARNO – TRAREGO – CANNOBIO – VERBANIA, ITALIEN
2014 – Es ist Juni, die Sonne wärmt uns und Italien wartet. Am Freitag Abend beginnt unser Wochenend-Trip, der Weg führt uns in knapp fünf Stunden von Tübingen über Zürich nach Locarno am Lago Maggiore. Ein durchwachsener Abend zieht in verschwommenen Schlieren am Fenster des Intercitys vorbei, während wir das malerische Neckartal durchfahren und bei Schaffhausen den reißerischen Rheinfall passieren. (Ab Singen am Hohentwiel auf die in Fahrtrichtung linke Fensterseite setzen!) Bei einem improvisierten, aber stilsicheren Abendessen mit Oliven, einer Flasche Rotwein und einem halbleeren Abteil stellt sich Gemütlichkeit ein. Ab dem Eglisauer Viadukt stemmen sich Wolken und Sonne gegeneinander, wir fahren zwei Stunden an einer Gewitterkante über der Schweiz entlang, hinter der die Sonne in einem scharfen Winkel alles unter ihr Liegende in golden gleißendes Licht taucht. Zürich erwartet uns geschäftig und professionell, auf dem Bahnsteig riecht die Luft warm und nach Regen. Im ICN beziehen wir ein bequemes Business-Abteil mit weichen Sesseln, die unsere Schläfrigkeit souverän auffangen. Das milchige Abendlicht spiegelt sich im Zürcher See und wechselt bald mit dem flimmernden Schwarz einer klaren Nacht, während wir auf dem Weg Richtung Locarno vor uns hindösen.
Gegen Mitternacht spuckt uns der ICN auf dem Bahnhof in Locarno aus, in dem Freitag Abend das Nightlife in vollem Gange ist; Musik und Gerüche erfüllen die angenehm frische Luft, Menschen aller Altersklassen und Colors springen über die Straßen oder wirbeln als buntes Farbengemisch in den Bars und Cafés umher. Vierzig Minuten später, nach einer kurvenreichen Autofahrt am nächtlichen See entlang und dem Überwinden von fünfhundert Höhenmetern, steigen wir im luftigen Trarego aus dem Auto, einem Vierhundert-Seelen-Örtchen oberhalb des Sees, in dem die Uhren und Herzen noch gemächlich im Takt der Dolce Vita schlagen. Trarego präsentiert sich uns stilecht wie die meisten der kleinen Örtchen rund um den Lago Maggiore; Häuser und Straßen schmiegen sich verwinkelt an die Hänge, die Menschen leben in einem für uns als Flachland-Bewohner faszinierendem Einklang mit der Enge der Berge.
Wir finden unsere Übernachtungsmöglichkeit im Hobbykeller der gemütlichen Pension, die von Familienmitgliedern bereits seit einigen Wochen bezogen wird. Da wir uns weder bei Eltern noch Geschwistern ins „Gräbele quetschen“ wollen, haben die Vermieter freundlicherweise kurzerhand ein Klappbett im Untergeschoss des Hauses für uns aufgebaut. Nach der langen Anfahrt drückt die Müdigkeit uns die Augen zu, wir fallen bei offener Terrassentür zwischen Fansnachtskostümen und präparierten Gemsköpfen als Wanddeko – der Vermieter ist Jäger – in einen entspannten Schlaf.
Samstag. Am nächsten Morgen locken wir unsere Familie an den Frühstückstisch mit frischen Brötchen, die wir zuvor ein Stück die Straße hinauf in einem typisch italienischen Ecklädelchen besorgen. Auf dem obligatorischen Bänkchen vor dem Laden hat sich eine italienische Mama in Position gelegt, die Vorbeiziehende einer kritischen Musterung unterzieht und ihre Tochter mit Einkaufsaufträgen überhäuft, die diese in einer Engelsgeduld an den Verkäufer im Ladeninneren weitergibt. Die Wolken, die die frühe Morgensonne abgedeckt haben, lichten sich langsam, die Wärme beginnt auf der Haut zu kitzeln, der vom See heraufwehende Wind bringt Erfrischung und Klarheit. Unter einem breiten Sonnenschirm auf der Terrasse unserer Pension, von der aus man einen weitwinkligen Blick über die Hänge von Trarego und den nebligen See unter uns hat, wartet das Frühstück auf uns.Der Vormittag schreitet voran und wir machen uns auf den Weg nach Cannobio, eine der größeren Städte in der Region Piemont. Cannobio liegt direkt am Ufer des Lago Maggiore, das Stadtbild ist geprägt vom bunten Mix aus kommerziellem West-Tourismus und historischer Innenstadt, man atmet frische Seeluft, die nach Dolce Vita, Gelato und Rotwein schmeckt. Nicht die stimmungsvollste aller italienischen Städte mit authentischer Altstadt, trotzdem lockt Cannobio Touristen mit einem Strandbad und einer Uferpromenade mit Flair und eignet sich ideal als Ausgangspunkt für Ausflüge in die umliegenden Berge.
Wir stellen unser Auto etwas außerhalb des Stadtkerns ab (Auf Höhe der Flussbrücke in Richtung Cannobio-Tal abbiegen, dort finden sich entlang der Straße einige kostenfreie Parkplätze), wandern entlang des Flusses Torente Cannobino und passieren die Hängebrücke Ponte Ballerino. Der Weg führt uns eine knappe halbe Stunde durchs Grüne, vorbei an Obstfeldern und verwinkelten Gärten, die wie gezeichnet an den Hängen liegen. Kiwi-, Aprikosen- und Granatapfelbäume greifen auf den Weg, in der aufgewärmten Luft hängt schwach und süß der Geruch von Lavendel. Eidechsen huschen als silbrig grüne Schatten an unseren Füßen vorbei und sind unsere ständigen Wegbegleiter. Der Wald schließt sich um uns herum, als wir eine zerbröckelte Hausruine aus Schieferstein passieren.
Nicht die härteste Wanderung unseres Lebens heute, doch nach der gestrigen Zugfahrt tut es gut, genügend Lauffreiheit für die Füße zu haben, ohne unter den südeuropäischen Sonne in den sportlichen Modus schalten zu müssen. Der Torente Cannobino neben uns zieht sich als breites Band durch das bewaldete Land, das langsam abfällt und sich schon bald in ein schmales, mediterranes Flusstal erweitert, in dem sich das Wasser in einem breiten Becken vertieft. Wir blinzeln in die Sonne und sehen hinauf auf den Talrand, wo sich 25 Meter über uns die Kapelle St. Anna gegen den blauen Himmel abzeichnet. Hinter der Kirche verengen sich die Felsen zu einer Spalte, in denen das Wasser sich als türkisgrüner Strudel tiefere Wege in die Berge hinein sucht.
Die Luft ist inzwischen stehend heiß und einlullend schwül, und das, obwohl es erst Juni ist. Wir suchen uns eine schattige Stelle zwischen den Sträuchern am Flussbett und schälen unsere Füße aus den Laufschuhen. (Etwas versteckt unterhalb der Kapelle befinden sich Toiletten und auch ein günstiger Getränkeautomat.) Die Atmosphäre des Ortes zieht Sonnenbadende an, um uns herum liegen Menschen auf den aufgewärmten Steinen, Familien und Rentner aus Deutschland und der Schweiz und junge Einheimische, die übermütig auf den Felsen herumklettern und die tiefen Flussstellen für wagehalsige Kopfsprünge nutzen.
Der Nachmittag besteht aus Sonne und dem Gefühl von eiskaltem Wasser zwischen den Zehen. Wir waten durch das Flussbett, die Strömung drückt gegen unsere Schienbeine, Algen kitzeln unter unseren Fersen. Am gegenüberliegendem Flussufer stellen wir uns unter den Wasserfall, der sich zwischen den Bäumen seinen Weg vom Berg herunter bahnt und legen uns dann in Flussmitte auf einen breiten Stein. Neben uns grillt sich ein braungebrannter, junger Mann mit Sixpack und sportlichem Kahlschädel in der Sonne und sorgt für Furore beim weiblichen Publikum, das vom Ufer aus anerkennende bis schmachtende Blicke in seine Richtung wirft. Nach ein paar gekonnten Yogaübungen durchstreift die Badenixe in anmutigen Bewegungen das Flussbett, erklimmt am Steilhang unterhalb der Kapelle mit Muskelspiel die Felswand, macht einen eleganten Kopfsprung und streicht sich beim Auftauchen unter den feuchten Augen der weiblichen Talbesucher das nicht vorhandende Haar aus der Stirn. Die Zuschaustellung männlicher Erhabenheit endet wieder auf dem Stein im Fluss, unterhalb dem sich inzwischen zwei deutsche Urlauberinnen auf die Lauer nach Mr. Yoga gelegt haben.
Wir beenden unsere Beobachtungen für einen schnellen, italienischen Mittagslunch aus der Vesperdose und machen einen Abstecher zur Kapelle St. Anna und der historischen Agostana-Brücke, die sich über die Felsspalte spannt. Vor der Kirche hat sich eine Horde italienischer Mamas und Papas auf grünen Plastikstühlen positioniert, die für jeden Vorbeikommenden einen neugierigen, freundlichen Blick übrig haben und deren laute Stimmen in das Tal hinunter hallen. Wenn man sich an das Geländer stellt, hat man in der klaren Luft einen weitwinkligen Blick über den Wald, die Hänge und das Flussbett, an dessen Ufer die die Menschen wie Bonbons verteilt liegen, ein mediterranes Gemälde aus Grau, Türkis und Dunkelgrün.
Der Tag neigt sich in den Abend, als die Sonne hinter der Kante des Bergrückens verschwindet und lange, kühlende Schatten in das Tal wirft. Unser Rückweg führt direkt nach Cannobio und zu einer Pizza und einem erfrischenden Panaché an der Uferpromenade. (Hier gibt es eine Menge guter Restaurants, es lohnt sich allerdings, zunächst einen Blick auf die Menükarte zu werfen, da sich die Preise von Restaurant zu Restaurant stark unterscheiden.) Der Abend und das anstehende Fußballspiel der WM treibt die Menschen auf die Straße, ein touristischer Mix aus Familienurlaubern und ergrauter Schickeria. Wir schlendern durch die von Abendlicht getränkte Innenstadt, durch enge Gassen und über Kieselstraßen, durch Barock, Belle Époque und Jugendstil. Der Abend klingt aus auf der Terrasse eines Cafés zu Hugo, Panaché und lautstarkem Kurzzeitpatriotismus der deutschen Touristen um uns herum, die das WM-Spiel Deutschland gegen Ghana auf einem großen Bildschirm verfolgen: das eigentliche Kulturerlebnis an diesem Wochenende…
Sonntag. Am Sonntagmorgen fallen wir vor Schreck fast aus dem Bett, als das ohrenbetäubende Klingen der vier Glocken der nahestehenden Kirche St. Michael durch Trarego hallt, begleitet vom hochfrequentierten Heulen eines der Hunde unserer Vermieter ein Stockwerk über uns. Nachdem wir es eine halbe Stunde am Frühstückstisch ausgehalten haben, ohne dass die Glocken oder der Hund nachgegeben hätten, machen wir uns möglichst schnell auf den Weg nach Cannobio.
(Entlang der Uferpromenade ist sonntags Markt.) Hier wird in den buntesten Qualitätsstufen von einem ebenso bunten Publikum Kleidung angeboten, dazu echte und unechte Ledertaschen, Schuhe und Nippes. Die Angebote ziehen Touristen wie Bewohner der Stadt in Schwärmen an, uns schreckt nach einer Stunde Bummeln vor allem die Hitze ab, die inzwischen zwischen den Ständen steht und das Blut zum Kochen bringt. Wir finden Schatten und ein unglaubliches Nudelgericht mit Shrimps, Safran und Ruccola in einem kleinen Restaurant am südlichen Ende der Promenade.
Es ist inzwischen Nachmittag, die Familie reist ab und wir setzen uns mit dem hundertsten Honigeis aus unserer Lieblingsdiele ans Seeufer in der Innenstadt. Ein Straßenkünstler begeistert Touristen wie Einheimische mit französischen Chansons und jazzig interpretierten Klassikern, und untermalt den gemütlichen Nachmittag mit einem stilvollen Soundtrack.
Am Abend machen wir uns per Auto auf ins knapp 25 km entfernte Verbania, stoppen etwas außerhalb von Cannobio zwischendurch auf einen Kaffee in einer kleinen Bar mit einer großzügigen Terrasse und einem lohnenden Ausblick auf den See, über dem inzwischen milchige Schwaden hängen. (Die Cafés direkt an der Straße bieten eine tolle Aussicht auf den See und die Tasse Kaffee teilweiße für nur einen Euro an.) In Verbania packt die feuchte, schwüle Luft Gebäude und Menschen in Schwerfälligkeit, die Straße trägt uns ziellos durch die Stadt. Trotz seiner Größe und einiger historischer Gebäude wirkt Verbania eher schmucklos, viele der sonntags geschlossenen Läden lassen darauf schließen, dass die touristische Infrastruktur hauptsächlich auf einen eher betuchten, etablierten Kundenstamm setzt.
Auf einem kleinen Essensmarkt mit buntem Angebot und charismatischen Düften probieren wir uns durch die Geschmäcker Italiens – grüne, fingerdicke Oliven, Käse, getrocknete Früchte und Rauchfleisch. (Der Markt findet hier sogar täglich statt.) Wir decken uns für das Abendessen ein, unser Geldbeutel wird leichter, die Taschen schwerer. Der ergraute Käseverkäufer erklärt uns mit breitem Grinsen und mit Hilfe seines Taschenrechners, dass München bei seinem Deutschlandbesuch vor elf Jahren viel schöner als Berlin war.
Die Aussicht auf das, was wir in unseren Taschen mit uns herum tragen, nimmt uns schon bald die Lust auf weitere Erkundigungen. Auf dem Rückweg zum Auto durch die Innenstadt bleiben wir eine Weile an einem Harfenisten hängen, dessen zartes Spiel durch die Enge der Gassen akustisch verstärkt wird und das Szenario wunderschön untermalt. Der Abend klingt aus auf der Terrasse unserer Pension, über uns ein feuchtes Abendrot, unter uns der milchige, flimmernde See.
Montag. Am letzten Urlaubstag klingelt der Wecker früh, wir wollen die letzten Stunden vor Abfahrt für eine Rundfahrt über die Berge nutzen. Per Auto passieren wir ab Trarego die Orte Cheglio und S. Eurosia, der Wagen sucht sich seinen Weg über Hänge und Wälder, die immer wieder aufbrechen für phantastische Ausblicke auf den See und einen nebligen Horizont. Unser Wochenendtrip endet im schweizerischen Locarno mit unseren Füßen im Wasser, in Beschlag genommen von einer Armada von Enten und Spatzen.
Abgerundet wird unser Urlaubserlebnis von einer Fahrt im Panoramawagen des InterRegio Zuges entlang der Gotthardstrecke. Vor dem Fenster, unter einem Regenhimmel, malen Licht und Berge Schluchten aus Grün und Blau in die Landschaft. Regen schlägt beständig gegen die großzügigen Fenster, wir lullen uns in unseren Sitzen ein und genießen die gemütliche Atmosphäre im Abteil. Kurz vor sechs erreichen wir Zürich, in dem uns die gleiche Geschäftigkeit in Empfang nimmt, die uns vier Tage zuvor nach Italien entlassen hat. Wir verbringen unseren kurzen Aufenthalt mit einem Kaffee in der SBB Lounge (mit einem internationalen 1.Klasse Fahrschein ist der Zutritt zur SBB Lounge in Zürich kostenlos), belauschen Gespräche über Aktienkurse, geplante Familienerweiterungen und die Rotlichtszene in Paris, die seit den 80ern deutlich an Seriosität verloren hat. Mit dem Intercity schließlich geht es durch das Neckartal und die Gäu zurück Richtung deutschen Alltag. Weit nach Mitternacht schließlich fallen wir in die heimischen Betten, den Geschmack von Oliven und Rotwein auf der Zunge.
Ein toller Reisebericht von: Weltenfinder, ein Blick auf den Blog Weltenfinder zeigt weitere, schöne Reiseberichte von Bulgarien über Liechtenstein bis Deutschland.